Vergütungspflicht von Umkleide-, Wege- und Körperreinigungszeiten – Neue Maßstäbe des BAG
Mit Urteil vom 23. April 2024 – 5 AZR 212/23 hat das Bundesarbeitsgericht (BAG) die Diskussion um die Vergütungspflicht von Umkleide-, Wege- und Körperreinigungszeiten entscheidend weiterentwickelt. Erstmals hat das Gericht ausdrücklich festgestellt, dass auch Körperreinigungszeiten zur vergütungspflichtigen Arbeitszeit gehören können. Diese Entscheidung präzisiert den Anwendungsbereich von § 611a Abs. 2 BGB und verdeutlicht zugleich die Grenzen tariflicher und betrieblicher Regelungsmacht.
Rechtliche Würdigung / Analyse
1. Begriff der Arbeitsleistung (§ 611a Abs. 2 BGB)
Das BAG wiederholt seine gefestigte Rechtsprechung, wonach zur Arbeitsleistung im Sinne von § 611a Abs. 1 BGB nicht nur die eigentliche Tätigkeit, sondern jede fremdnützige, auf Weisung des Arbeitgebers erbrachte Handlung zählt.
Arbeit ist jede Tätigkeit, die der Befriedigung eines fremden Bedürfnisses dient.
Damit fallen auch vorbereitende, begleitende oder nachbereitende Tätigkeiten unter den Vergütungsanspruch, sofern sie im Gegenseitigkeitsverhältnis zur Hauptleistungspflicht stehen.
2. Umkleidezeiten
Das An- und Ablegen von Dienstkleidung ist nach der Entscheidung regelmäßig vergütungspflichtige Arbeitszeit, wenn der Arbeitgeber das Tragen der Kleidung anordnet und diese nur im Betrieb getragen werden darf.
Das Umkleiden ist in diesem Fall ausschließlich fremdnützig, da es nicht dem privaten, sondern dem betrieblichen Interesse dient.
Diese Linie entspricht der bisherigen Rechtsprechung des BAG (vgl. etwa BAG, Urteil vom 19.09.2012 – 5 AZR 678/11).
3. Wegezeiten zum Umkleideraum
Auch die Wegezeiten vom Umkleideraum zum Arbeitsplatz und zurück gehören – sofern die Dienstkleidung im Betrieb anzulegen ist – zur vergütungspflichtigen Arbeitszeit.
Maßgeblich ist, dass der Arbeitnehmer nicht die Wahl hat, sich direkt am Arbeitsplatz umzuziehen.
Das BAG betont, dass diese Wegezeiten ausschließlich fremdnützig sind, weil sie allein auf betriebliche Anordnungen zurückgehen.
4. Körperreinigungszeiten als neue Kategorie
Besonders bedeutsam ist die Feststellung des BAG, dass nun auch Körperreinigungszeiten – also insbesondere Duschzeiten – vergütungspflichtig sein können.
Voraussetzung ist, dass sich der Arbeitnehmer bei der geschuldeten Arbeitsleistung so stark verschmutzt, dass ihm ein Verlassen des Betriebs ohne vorherige Reinigung nicht zugemutet werden kann.
In diesen Fällen bildet die Reinigung eine notwendige Fortsetzung der Arbeit und steht somit im unmittelbaren Zusammenhang mit der Arbeitsleistung.
Allerdings verlangt das BAG eine wertende Einzelfallprüfung:
Nicht jede im Arbeitsalltag auftretende Verschmutzung rechtfertigt eine Vergütungspflicht.
Maßgeblich ist, ob das Duschen objektiv erforderlich ist, um den Zustand nach der Arbeit zumutbar zu beenden.
Orientierung können öffentlich-rechtliche Arbeitsschutz- oder Hygieneregeln bieten, etwa die Gefahrstoffverordnung oder branchenspezifische Unfallverhütungsvorschriften.
Damit führt das BAG den Begriff der „fremdnützigen Nachbereitung“ der Arbeit ein: Wenn Arbeiten und anschließendes Duschen als untrennbare Einheit erscheinen, ist beides vergütungspflichtig.
5. Ausschluss oder Modifikation der Vergütungspflicht
Das Gericht stellte klar, dass die Einordnung als Arbeitsleistung nach § 611a Abs. 2 BGB keinen zwingenden Vergütungsanspruch in voller Höhe bedeutet.
Arbeitgeber und Arbeitnehmer können individual- oder kollektivrechtlich abweichende Regelungen treffen – bis hin zum vollständigen Ausschluss der Vergütungspflicht.
Allerdings unterliegen Betriebsvereinbarungen hierbei der Tarifsperre des § 77 Abs. 3 BetrVG.
Im entschiedenen Fall enthielt der einschlägige Tarifvertrag eine abschließende Vergütungsregelung, sodass betriebliche Zusatzvereinbarungen nichtig waren.
6. Schätzung nach § 287 ZPO
Kann der Arbeitnehmer den zeitlichen Umfang der Umkleide- oder Körperreinigungszeiten nicht exakt belegen, hat das Gericht diese nach § 287 Abs. 2 ZPO zu schätzen.
Das BAG betonte, dass eine Plausibilitätsprüfung und ggf. eine Schätzung auf Basis typischer Erfahrungswerte genügen.
Bemerkenswert ist, dass das Gericht dabei den in den Vorinstanzen unternommenen „Selbstversuch“ des Vorsitzenden Richters zur Ermittlung der Duschdauer als unzulässige Beweiserhebung einstufte – ein humorvoller, aber rechtlich klarer Hinweis auf die Grenzen gerichtlicher Eigenexperimente.
Fazit / Ausblick
Das Urteil vom 23. April 2024 schafft eine neue Klarheit im Grenzbereich zwischen Arbeitszeit und persönlicher Betätigung.
Das BAG definiert die Vergütungspflicht nun dreistufig:
Umkleidezeiten – vergütungspflichtig, wenn die Kleidung vorgeschrieben und nur im Betrieb tragbar ist.
Wegezeiten – vergütungspflichtig, wenn sie notwendige Folge des Umkleidens sind.
Körperreinigungszeiten – vergütungspflichtig, wenn das Duschen objektiv erforderlich und fremdnützig ist.
Für Arbeitgeber bedeutet dies eine erhöhte Compliance-Pflicht: Arbeitszeitmodelle, Tarifverträge und Betriebsvereinbarungen müssen auf diese neue Rechtsprechung abgestimmt werden.
Arbeitnehmer erhalten zugleich mehr Rechtssicherheit bei der Geltendmachung bislang umstrittener Zeitanteile.
Rechtsanwalt Dr. Stephan Schmelzer
Fachanwalt IT-Recht, Fachanwalt Arbeitsrecht
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Ostberg 3, 59229 Ahlen
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